Die Wahlrechtsreformen - ein besonders quälender Prozess

von Manfred Brandt

Die meisten Hamburger werden sich noch erinnern: Bei Bürgerschaftswahlen hatte man bis 2004 nur eine Stimme und konnte nur eine Partei ankreuzen. Auf der Landesliste – Wahlkreise gab es nicht – standen nur die Namen der vier Spitzenkandidaten jeder Partei. Wer sonst noch einen sicheren Platz auf den Parteilisten ergattert hatte, erfuhr man nicht. Die Folge war ein Parlament, dessen Mitglieder mehrheitlich damit beschäftigt waren, sich innerparteilich als beim Wahlvolk zu profilieren - Bürgernähe zahlte sich für Politikerkarrieren nicht aus. 20 Jahre lang mahnten unabhängige Kommissionen vergeblich eine Reform an, durch die die Wählerinnen und Wähler mehr Einfluss auf die personelle Zusammensetzung der Bürgerschaft erhalten sollten. Die Geschichte der Wahlrechtsreform ist eng verbunden mit der Entwicklung der direkten Demokratie in Hamburg. Sie wird auch deshalb hier erzählt. 

Wir hatten in Hamburg gerade Bürgerbegehren und Bürgerentscheide per Volksentscheid durchgesetzt und waren bei der Verfassungsänderung für bürgerfreundliche Volksabstimmungen nur knapp an dem Zustimmungsquorum von 50  Prozent der Wahlberechtigten gescheitert. Der Auftrag des Trägerkreises dieser beiden Volksentscheide hieß: Das Hamburger Wahlrecht reformieren und erneut die Verfassungsänderung über Volksabstimmungen anpacken, wenn es parlamentarisch zu keinen befriedigenden Lösungen kommt. Keiner hat den genau so spannenden wie Kräfte zehrenden, aber letztlich erfolgreichen Kampf der folgenden fünfzehn Jahre erwartet. Dabei war schon klar: Wahlrechtsänderungen greifen ein in parteiinterne Machtstrukturen, ein hoch sensibler Bereich. Da war der vehemente Widerstand der Machtstrategen in den Parteien gewiss. Sie hatten auch in Hamburg überfällige Wahlrechtsänderungen über Jahrzehnte verhindert und parteiinterne Machtstrukturen gepflegt. Das aufzubrechen, um Parteien zu öffnen und attraktiver für Mitarbeit zu machen, war neben der Personalisierung ein zentrales Ziel der Reform.

Am Entwurf für das Wahlrecht arbeiteten wir drei Jahre lang. Anfangs gab es zum Teil heftige Debatten: Sollte es ein System auf der Grundlage des Bundestagswahlrechts mit Kumulieren und Panaschieren werden oder das Präferenzwahlsystem nach irischem Vorbild - also keine Kreuze, sondern die Kandierenden werden in kleinen Mehrmandatswahlkreisen – 1. 2. 3. ... - in die gewünschte Reihenfolge gesetzt? Das Kreuze machen setzte sich durch und 2001 hatten wir dank der großartigen Hilfe von wahlrecht.de einen respektablen Gesetzentwurf.

Damit starteten wir die Volksinitiative im Sommer 2001. Dazu wurde mehr Bürgerrechte e.V. gegründet. Mehr Demokratie e.V. wollte sich damals ausschließlich auf die direkte Demokratie konzentrieren. Nach dem 11. September, dem Anschlag auf das World Trade Center in New York, brachen wir die Kampagne ab. Angesichts dieses Terrorakts interessierten sich die Leute nicht mehr für das Hamburger Wahlrecht. Wir waren aber auch organisatorisch zu schwach und die vorgesehene Absenkung der Fünf-Prozent-Sperrklausel auf drei Prozent bei Bürgerschaftswahlen erschwerte das Sammeln der Unterschriften. Das Volksabstimmungsverfahren war inzwischen auf parlamentarischem Wege erleichtert worden (10.000 statt 20.000 Unterschriften - ein Ergebnis der Kampagne von 1998), und so starteten wir 2002 erneut durch, diesmal besser aufgestellt. Die Absenkung der Fünf-Prozent-Sperrklausel hatten wir aus dem Gesetzentwurf gestrichen. Der Erfolg blieb nicht aus.

Beim Volksentscheid im Juni 2004 votierten nicht ganz zwei Drittel der Abstimmenden für den Gesetzentwurf der Volksinitiative. Das Zustimmungsquorum von 20 % wurde knapp übersprungen. Eine Zitterpartie, dann jubelten wir. Das erste Mal hatte sich in Deutschland das Volk selbst ein neues Wahlrecht gegeben, leider auch sonst in der Welt die Ausnahme. CDU und SPD waren schockiert. Sie hatten als Gegenvorschlag das leicht modifizierte Bundestagswahlrecht mit zur Abstimmung gestellt und waren damit gescheitert.

Nachdem das Ergebnis feststand, wollte der Vorsitzende der SPD-Bürgerschaftsfraktion mit der Axt in den Wald ziehen und einen Baum umhauen, der Fraktionsvorsitzende der CDU verkündete: „Das Volk hat entschieden, wir werden das respektieren.“ Ein demokratisch gesehen überflüssiger Satz, der keinen Bestand hatte. Schon wenige Monate später wurde im vertraulichem CDU-Kreis an einer Wahlrechtsänderung gearbeitet. Die CDU hatte damals die absolute Mehrheit im Parlament. Sie machte damit die vom Volk beschlossene Wahlrechtsreform weitgehend wirkungslos.

Auch das hatte es in Deutschland noch nicht gegeben: Eine Partei ändert im Alleingang das Wahlrecht und das für die anstehende Wahl. Die Abgeordneten dieser Partei legten also die Regeln fest, nach denen sie wieder gewählt werden wollten. Dies verbunden mit dem Wahlrechtsraub am Volk war in dieser Republik bisher ohne Beispiel.

Die Antwort blieb nicht aus. Anfang 2008 starteten wir erneut. Das Volksbegehren „ Mehr Demokratie – Ein faires Wahlrecht für Hamburg“ war im Januar/Februar 2009 erfolgreich. Die Führungskräfte der Hamburger CDU und SPD waren wieder irritiert bis geschockt. Im Lichte einer drohenden Niederlage beim nun anstehenden Volksentscheid kam es zu Einigungsgesprächen.

Es gibt gute und schlechte Kompromisse. Der Hamburger Wahlrechtskompromiss von 2008 gehört nicht nur in die Kategorie gut, sondern stellt auch ein gutes Stück Demokratiegeschichte dar. Das Wahlgesetz erhielt erstmalig in Deutschland quasi Verfassungsrang und wurde gegen einseitige parlamentarische Veränderungen durch das Instrument „fakultatives Referendum“ gesichert. Es wurde zwar etwas komplizierter als das Wahlgesetz das 2004 per Volksentscheid beschlossen worden war. Der Einfluss der Wählenden auf die personelle Zusammensetzung des Landesparlaments und der Bezirksparlamente blieb jedoch weitgehend erhalten.

Das Hamburger Wahlrechtsdrama ist in der Übersicht zusammengefasst:

bis 2004 Listenwahlrecht ohne Personenwahl, ein Kreuz für eine Partei, keine Wahlkreise
2004 durch Volksentscheid Bürgerschaft: 17 Mehrmandatswahlkreise mit 3 bis 5 zu wählenden Abgeordneten, 71 der insgesamt 121 Abgeordneten werden über diese Wahlkreise, die übrigen über Landeslisten gewählt. Sowohl auf den Landeslisten als auch auf den Wahlkreislisten kann mit jeweils 5 Stimmen kumuliert und panaschiert werden, wobei nur Personen und/oder nur Parteien (Listen) angekreuzt werden können. Wer die meisten Stimmen erhält, zieht als erste/r für ihre/seine Partei ein.

Bezirksversammlungen:Für die 7 Bezirksversammlungen gilt die gleiche Struktur des Wahlrechts wie bei der Bürgerschaft. Die Fünf-Prozent-Sperrklausel entfällt. Der Wahltag wird von der Bürgerschaftswahl getrennt und mit dem Wahltag zum Europäischem Parlament verbunden.
2006/2007 durch CDU-Mehrheit der Bürgerschaft und Urteil des Hamburgischen Verfassungsgerichts Bürgerschaft:Listenwahlrecht bei den Landeslisten, also keine Personenwahl. In den 17 Wahlkreisen wird die weiterhin mögliche Personenwahl weitgehend wirkungslos. Von den 121 Abgeordneten schaffen bei der Bürgerschaftswahl von 2008 nur 3 Personen den Sprung von hinteren Listenplätzen ins Parlament.

Bezirksversammlungen: Es gilt die Struktur des Bürgerschaftswahlrechts, allerdings mit identischen Wahlkreisen für Bürgerschaft und Bezirksversammlungen, wodurch pro Wahlkreis bis zu 25 Abgeordnete gewählt werden. Die Fünf-Prozent-Sperrklausel wird wieder eingeführt und die Wahl wieder mit der Bürgerschaftswahl verbunden.
2009 Kompromiss mit der Bürgerschaft nach erfolgreichem Volksbegehren „Verfassungsrang“: Wahlrechtsänderungen erfordern nicht die einfache, sondern die Zweidrittel-Mehrheit. Von der Bürgerschaft beschlossene Wahlrechtsänderungen müssen dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden, wenn 2,5 % der Wahlberechtigten das verlangen (fakultatives Referendum).

Bürgerschaft: Es gilt das 2004 vom Volk beschlossene Wahlrecht mit zwei Änderungen: In den Wahlkreisen entfällt das Listenkreuz, die Parteien werden nur über Personen gewählt. Auf der Landesebene ist neben der Personenwahl die reine Listen-(Parteien-)wahl möglich. Der Grundsatz „Wer die meisten Stimmen hat, zieht als erste/r für ihre/seine Partei ins Parlament“ wird aufgegeben und durch die Gewichtung der Listenkreuze nach dem Bremer Modell (siehe wahlrecht.de) eingeschränkt.

Bezirksversammlungen: Es gilt die Struktur des Bürgerschaftswahlrechts. Die Fünf-Prozent-Sperrklausel wird auf drei Prozent vermindert. Die Wahl findet am Tag der Wahl zum Europäischen Parlament statt.
Januar 2013 durch das Hamburgische Verfassungsgericht Die 3%-Sperrklausel für Bezirksversammlungswahlen wird wegen Verfasssungswidrigkeit wieder abgeschafft.
Dezember 2013 Verfassungsänderung durch SPD, CDU und Grüne Die 3%-Sperrklausel für Bezirksversammlungswahlen wird in die Verfassung aufgenommen, um die Entscheidung des Verfassungsgerichts aufzuheben. Dagegen wird ein fakultatives Referendum eingeleitet. Der Senat beantragt beim Verfassungsgericht die Überprüfung der Zulässigkeit. Kleine Parteien kündigen Verfassungsklagen an („Verfassungswidriges Verfassungsrecht“).