Das Hamburger Wahlrecht nicht schlecht reden!

Die niedrige Wahlbeteiligung ist nicht nur ein Hamburger Problem. Viele Menschen erleben Parteien und ihre Mandatsträger nicht mehr als „Volksvertreter“. Das Gefühl „Die machen ja doch was sie wollen“ hält auch in anderen Bundesländern immer mehr Wahlberechtigte von den Urnen fern - siehe Statistik „Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen bis 2014“.

Gegenüber 2011 ist die Wahlbeteiligung in Hamburg um 0,4 Prozent zurückgegangen. Zur niedrigen Wahlbeteiligung hat vermutlich auch beigetragen, dass es mehr Wahlberechtigte gab - nämlich etwa 40.000 mehr als 2011. Von den 16- und 17jährigen, die zum ersten Mal wählen durften, machten nur 28 Prozent von diesem Recht Gebrauch. Und viele Neubürger sind in Hamburg zwar wahlberechtigt, fühlen sich aber in der Hansestadt noch nicht so zu Hause, dass sie politisch mitmischen wollen. Beide Faktoren senken natürlich die prozentuale Wahlbeteiligung.

Sehr wahrscheinlich liegt die niedrige Wahlbeteiligung nicht am Wahlrecht, sondern daran, dass die Leute ohnehin davon ausgingen, dass der Sieger Olaf Scholz heißen würde. Und an diesem völlig überkandidelten Wahlkampf, der eher eine gigantische Material- und Plakatschlacht war als eine Auseinandersetzung um politische Inhalte. Nach dem alten Wahlrecht - ohne Wahlkreise, mit nur einer Stimme für eine unveränderbare Parteiliste - wäre die Wahlbeteiligung in Hamburg mit großer Sicherheit noch sehr viel niedriger ausgefallen. Denn mit so wenig Einfluss wie früher auf die Zusammensetzung des Parlaments hätten es viele noch weniger sinnvoll gefunden, an der Wahl teilzunehmen. 

Manfred Brandt vom Mehr-Demokratie-Landesvorstand Hamburg vermutet noch eine Reihe anderer Gründe für den Rückgang der Wahlbeteiligung: „Eine wirklich schlüssige, gut belastbare Erklärung für die seit den 70/80er Jahren abnehmenden Wahlbeteiligungen in Deutschland kenne ich nicht. Auffällig ist ein starker Zusammenhang zwischen der Abnahme der Wahlbeteiligung und der starken Abnahme der Mitgliederzahl in den Parteien. Die Unterschiede zwischen den Parteien und die Attraktivität der Parteien haben abgenommen.

Offensichtlich sind die Menschen auch immer weniger bereit, sich innerparteilichen Machtspielen auszusetzen. In den Parteien hat sich eine „Closed-Shop-Mentalität“ breitgemacht, die für Außenstehende schwer aufzubrechen ist und abschreckend wirkt. Die Parteien wieder stärker zu öffnen, war und ist übrigens eins der wesentlichen Ziele des neuen Hamburger Wahlrechts. Dann würden auch wieder mehr Parteimitglieder aktiv Wahlkampf betreiben. Die sogenannten Fairnessabkommen, mit denen sichergestellt werden soll, dass nur Kandidaten mit vorderen Listenplätzen für sich werben sollen, konterkarieren dieses Ziel. Das demotiviert und fördert sicher nicht die Wahlkampfaktivitäten und die Wahlbeteiligung. Hier wird aus Angst vor parteiinterner Konkurrenz Wählerpotenzial verschenkt.“

Die Zahl einfacher Parteimitglieder, die aktiv Wahlkampf betreiben, hat ebenfalls stark abgenommen. Auch das könnte die Wahlbeteiligung verringern. Dafür sprechen die höheren Wahlbeteiligungen in den westdeutschen Flächenländern im Vergleich zu den Stadtstaaten. Hamburg wäre Schlusslicht bei den Europawahlen gewesen, wenn diese Wahl nicht gemeinsam mit den Bezirksversammlungswahlen durchgeführt worden wäre. In den westdeutschen Flächenländern sind sehr viel mehr Menschen politisch aktiv als in den Stadtstaaten. So werden in Hamburg genau genommen nur 121 Abgeordnete gewählt. Die etwa 350 Bezirksabgeordneten sind laut Verfassung ja nur gewählte „Mitglieder eines Verwaltungsausschusses“ ohne abschließende Kompetenzen. In Schleswig-Holstein werden z.B. ca 13500 Volksvertreter gewählt. Aber auch da hat die Wahlbeteiligung stark abgenommen.

Das Hamburger Wahlrecht ist weder zu kompliziert noch Ursache für geringe Wahlbeteiligungen. Das ist aus Untersuchungen zur Einführung wirklich komplizierter Wahlrechte recht gut bekannt., z.B. beim Kommunalwahlrecht in Hessen und Rheinland-Pfalz. Manfred Brandt: „Wer so etwas behauptet, will nur den Einfluss der Wählenden auf die personelle Zusammensetzung der Parlamente vermindern. Das ist auch der Hintergrund der jetzt wieder aufflammenden Forderungen aus den Parteien, das Wahlrecht zurück zu drehen.“

Angelika Gardiner, ebenfalls im Mehr-Demokratie-Landesvorstand Hamburg, hat als Wahlhelferin in Eimsbüttel mitgewirkt. Ihre Beobachtungen: „In unserem Wahllokal hat niemand über das komplizierte Wahlrecht geklagt, und beim Auszählen konnte man sehen, dass fast alle Wählerinnen und Wähler ihre Stimmen sehr bewusst vergeben haben. 2011, bei der ersten Wahl nach dem neuen System, haben manche Leute mit ihren fünf Kreuzen noch grafische Muster anzulegen versucht, das war diesmal überhaupt nicht der Fall. Wir hatten auch kaum ungültige Stimmen. Nur bei den Wahlkreislisten wurden bei uns vier oder fünf leere Stimmlisten abgegeben.

Auch das Auszählen ging erstaunlich schnell und problemlos - wir waren am Sonntagabend um 20 Uhr und am Montagmorgen um 11 Uhr fertig.“

Die Hamburger Bürgerinnen und Bürger haben sich selbst ein Wahlrecht gegeben, das ihnen mehr Einfluss auf die personelle Zusammensetzung ihrer Volksvertretungen gibt. Das ist doch toll und da ist Hamburg Spitze und Vorbild für andere Bundesländer. So kann man motivieren an der Wahl teilzunehmen. Was ist daran so schwer?

Dieser Effekt kann verbessert werden. Dazu sollte es von Amts wegen eine Wahlkreis-Broschüre geben, in der sich die jeweiligen Wahlkreiskandidaten auf z.B einer halben Seite vorstellen. Sie wäre mit der Wahlbekanntmachung zu verschicken. Das könnte auch den Plakatwald lichten, innerparteilichen Stress abbauen und eine breitere Diskussion über die Kandidaten auslösen. Auch die Berufsbezeichnung der Kandidaten muss verlässlicher werden. Dazu muss das Wahlrecht nicht geändert werden.

All diese Feststellungen berühren das größte Problem unserer Demokratie: die sinkende Akzeptanz der Parteien und damit auch der parlamentarischen Demokratie.