MD magazin: Mal schnell die Verfassung ändern ...?

Zweidrittel-Mehrheit in Hamburg will der direkten Demokratie an den Kragen, aber keiner soll’s merken

Rettet den Volksentscheid

Die goldenen Zeiten, in denen Initiativen aus dem Volk das Wahlrecht reformieren oder den Rückkauf der Energienetze durchsetzen konnten, scheinen in Hamburg vorbei. SPD, Grüne, CDU und AfD stimmten im Landesparlament einer Verfassungsänderung zu, die vordergründig nur ein Olympia-Referendum ermöglichen sollte. Doch ein raffiniert angelegtes Regelwerk erstickt zugleich künftige Volksinitiativen im Keim.

„Wir wollten nicht immer nur zweite Sieger sein“, gab ein Abgeordneter der neuen Regierungskoalition aus SPD und Grünen im Hamburger Rathaus zu. Seit kurzem können Senat und Bürgerschaft beschließen, zu einem Thema von „grundsätzlicher und gesamtstädtischer Bedeutung“ ein Referendum durchzuführen. Zielrichtung und Zeitpunkt dieser Volksabstimmung von oben müssen noch nicht einmal feststehen, doch ab sofort ist das Thema für Initiativen von unten weitgehend geblockt. Initiativen, die zu diesem Zeitpunkt die zweite Verfahrensstufe, das Volksbegehren, schon gemeistert haben, können ihre Sicht der Dinge nur noch als Gegenvorlage einbringen. Auf den Termin eines Volksentscheids haben sie keinen Einfluss. Am schlimmsten kommt es für Initiativen, die am Beschlusstag das Volksbegehren noch vor sich haben. Sie müssten mit extrem kurzem Vorlauf innerhalb von drei Wochen die nötigen 65.000 Unterschriften sammeln. Das ist nach aller Erfahrung nicht leistbar. Was aus Volksinitiativen wird, die noch in der ersten Verfahrensstufe stecken, ist ungewiss. Je nach Auslegung sind sie ab Referendumsbeschluss tot – oder sie können noch eine Weile weiter machen und laufen dann gegen eine Wand. Zwar mildert ein Ausführungsgesetz einige Härten ab – Fristen etwa oder Beiträge im Abstimmungsheft vor einem Entscheid –, doch Senat und Bürgerschaft bleiben Herren des Verfahrens. Lange Sperrfristen sind vorgesehen – es kann fünf Jahre dauern, bevor eine Volksinitiative das Thema, zu dem ein Referendum abgehalten wurde, wieder aufgreifen darf. Bis auf FDP und Linke stimmten alle anderen Parteien der neuen harten Linie zu. „Mit dieser Verfassungsänderung können Volksinitiativen im Keim erstickt werden“, urteilte der renommierte Staatsrechtler Prof. Hans Meyer. „So wird die direkte Demokratie vom Korrektiv zum Instrument der Herrschenden“.

Wie konnte es dazu kommen? Dass Regierungen und Parlamente nicht erfreut sind, wenn ihnen das Volk in die Quere kommt – geschenkt. Auch in Hamburg war der Gegenwind immer heftig, wenn Mehr Demokratie zusammen mit unterschiedlichen Bündnispartnern auf die Straße ging. Am Ende dieser knapp zwanzig Jahre politischer Arbeit standen eine bürgerfreundliche Volksgesetzgebung, ein demokratischeres Wahlrecht und ein zukunftsweisendes Transparenzgesetz. Die Stadt gab sogar ein wenig an mit der „am weitesten entwickelten direkten Demokratie in Deutschland“. Alles schien gut.

Was derzeit in der Hansestadt passiert, ist ein Lehrstück dafür, wie nachtragend Politik sein kann. Es fing eher unauffällig an. Aus den sieben Bezirken mehrten sich die Klagen von Bürgerinitiativen, ihre lokalen Anliegen würden abgebügelt, übergangen, nicht umgesetzt – trotz gewonnener Bürgerentscheide. Es schien, als habe die SPD-Regierung unter Olaf Scholz stillschweigend beschlossen, den Bürger/innen zu zeigen, wer das Sagen hat – nämlich nicht: das Volk. Im Stadtstaat Hamburg gibt es keine wirklichen Kommunen, Bezirke sind nur Verwaltungseinheiten, das letzte Wort hat immer der Senat. Deshalb entwickelten Hamburger Mehr-Demokrat/innen zwei Gesetzentwürfe, die unter anderem echte kommunale Selbstverwaltung für den Stadtstaat vorsahen (siehe mdmagazin Nr. 1xx). Das sprach sich herum und entsetzte Politik und Behörden. Gleichzeitig ärgerte sich ein weiterer mächtiger Mitspieler in Hamburg, die Handelskammer, weil auch in ihren Reihen der Ruf nach mehr Demokratie laut geworden war: Das mit den Volksentscheiden müsse aufhören, forderte Präses Fritz Horst Melsheimer. Dass Regierung oder Parlament ihm widersprochen hätten, ist nicht bekannt.

Eine weitere Ebene kam ins Spiel. Hamburg will sich um die olympischen Spiele 2024 bewerben und versprach, dazu das Volk zu befragen. Ein paar grüne Abgeordnete drängelten: Vielleicht sollte man in Zukunft bei Großprojekten immer das Volk um seine Meinung fragen? Warum auch nicht, dachten die Hamburger Mehr-Demokrat/innen und ahnten nichts Böses.

Im Mai kam der Hammer: Das Instrument „Bürgerschaftsreferendum“, das SPD und Grüne hinter den Kulissen entworfen hatten, enthielt plötzlich Vorschriften, die für Initiativen kaum zu stemmen sind. Die CDU, vorher allenfalls Befürworterin einer Olympia-Spezialregelung, schwenkte um. Der Preis dafür war schnell ausgehandelt: Noch vor der Sommerpause wollen die Mehrheitsparteien damit beginnen, das Wahlrecht zu „vereinfachen“. Soll heißen: Die Parteieliten wollen wieder stärker selbst bestimmen, wer ins Landesparlament einzieht – Schluss mit der freien Auswahl unter den vielen Kandidierenden.

So eilig dürfte in Deutschland noch nie eine Landesverfassung geändert worden sein: Von der Expertenanhörung über den Verfassungsausschuss bis zur zweiten Lesung im Parlament vergingen gerade mal sechs Wochen.

Aber auch Mehr Demokratie war fix. In Tag- und Nachtarbeit entstanden zwei Gesetzentwürfe – der eine für eine zeitlich begrenzte Lex Olympia mit fairen Regeln für Befürworter und Gegner der Olympia-Bewerbung, der andere zur Sicherung dessen, was in den letzten Jahren für die Demokratie in Hamburg erreicht wurde. Ein Bündnis aus Mehr Demokratie und einem Dutzend Bürgerinitiativen meldete zwei Tage vor der Verfassungsänderung die beiden Volksinitiativen im Rathaus an. Da galt ja noch das alte großzügigere Recht. Gleichzeitig übergaben dort Manfred Brandt und Gregor Hackmack mehr als 50.000 Unterschriften von Menschen, die innerhalb von zwei Wochen auf der Internet-Plattform change.org die Petition „Rettet den Volksentscheid“ unterzeichnet hatten. Einen Tag später standen in der Innenstadt schon die ersten Plakate mit dem in Hamburg vertrauten Logo „Rettet den Volksentscheid“.

Jetzt muss sich zeigen, wer das Rennen macht – der Hase oder der Igel.

Angelika Gardiner