Stellungnahme zur Anhörung „Hamburger Wahlrecht“ im Verfassungsausschuss der Hamb. Bürgerschaft am 15.9.2015 von Manfred Brandt

Grundsätzliches

Seit dem erfolgreichen Volksentscheid „Faires Wahlrecht“ im Jahre 2004 wurden die wahlrechtlichen Bestimmungen Hamburgs insgesamt fünf Mal geändert. Drei Änderungen erfolgten auf Verfassungsebene, zwei betrafen das Wahlgesetz direkt. Eine erneute Änderung wird heute erörtert. Eine derartige Häufung von Änderungen ist außerordentlich ungewöhnlich. Zuvor war in Hamburg Jahrzehnte über eine Personalisierung des Wahlrechts diskutiert worden, gab es zwei entsprechende Empfehlungen von Enquete-Kommissionen der Bürgerschaft, die keine Folgen hatten. Das Wahlrecht blieb unverändert.

Nach dem Wahlrechts-Volksentscheid setzten bis heute große Änderungsbestrebungen ein. Die Gründe sind nachvollziehbar. Die Verfassungsänderungen der letzten Jahre berührten vor allem den Wettbewerb zwischen den Parteien. Bei den Änderungen des eigentlichen Wahlgesetzes ging es vor allem darum, den Einfluss der Parteien auf die Auswahl der Abgeordneten wieder zu stärken bzw. den Einfluss der Wählenden wieder einzuschränken. Da die Personalisierung eines Wahlrechts eingeübte innerparteiliche Machtstrukturen ändert, gibt es vor allem deswegen Widerstand in den Parteien. Das ist ein bekanntes Bestreben in Organisationen: Die Ausbildung von Machtzirkeln, die sich gern abschotten. In einer Parteiendemokratie leidet darunter leicht die Bodenhaftung der politischen Akteure, die Gewählten entfernen sich zu sehr von den Wählenden – die Bürgernähe geht verloren.

Mit der Wahlrechtsreform von 2004 sollte dem entgegen gewirkt werden.

Was ist daraus geworden? Ein zähes Ringen, auch deswegen gibt es diese Anhörung.

In rein parlamentarisch verfassten Demokratien, in denen das Volk außerhalb der Wahlen nichts entscheiden kann, legen nur die Gewählten – also die Parlamente – fest,  wie sie gewählt werden wollen. Das ist nicht anders möglich, hat aber ein Problem: Die Gewählten entscheiden in eigener Sache. Sie sind befangen. Deshalb sollten sie mit Wahlrechtsänderungen möglichst behutsam umgehen. Das Problem kann dadurch gemildert werden, dass von einem Parlament beschlossene Wahlrechtsänderungen nicht für die nächste, sondern immer erst für die übernächste Wahl wirksam werden. Demokratietheoretisch ist es am besten, wenn die Wahlberechtigten entscheiden, nach welchen Regeln sie ihre Vertretung wählen wollen. 

Es gibt nicht das eine, optimale Wahlrecht. Im Kern sollte es möglichst einfach sein und den Wählenden möglichst viel Einfluss darauf geben, nicht nur von welcher Partei, sondern auch von welchen Personen sie vertreten werden wollen. Am einfachsten wäre es, sich am bayerischen Landtagswahlrecht zu orientieren. Dann gäbe es keine Landeslisten, sondern nur Bezirkslisten (ohne Listenkreuz), auf denen mit einem Kreuz die von den Parteien und Wählervereinigungen vorgeschlagenen Personen gewählt werden können. Diese Vorschläge gab es auch aus Hamburger Parteien. Im Stadtstaat Hamburg könnten allerdings sieben „Fürstentümer“ auch Probleme bereiten. Das jetzt geltende System aus Landesliste und Wahlkreisen dürfte sowohl der Bürgernähe als auch der Wahrnehmung von Gesamtinteressen besser gerecht werden. Mehrmandatswahlkreise haben den großen Vorteil, dass Wahlkreismandate nicht nur auf ein oder zwei Parteien entfallen. Durch sie können auch Überhangmandate vermieden werden.

Ein wesentliches Ziel der Wahlrechtsreform wurde erreicht. Durch die Einführung der Wahlkreise wohnen die Abgeordneten der Bürgerschaft nicht mehr überwiegend in den bevorzugten Stadtteilen. Die Stadteile und somit auch ihre Bewohner sind heute in der Bürgerschaft besser repräsentiert und das nicht nur durch eine Partei.

Nicht erreicht wurde die bessere Öffnung der Parteien für neue Mitglieder und Kandidaten, die in den Stadtteilen anerkannt sind. Erfahrungsgemäß ist die Mitgliederwerbung besonders erfolgreich, wenn ein Anreiz da ist, möglichst viele überzeugende Kandidaten aufzustellen. Daran besteht in den Parteien offensichtlich kein vorrangiges Interesse. Denn der erfolgreiche Wettbewerb um Mandate könnte erschwert werden, je mehr Mitbewerber es gibt. Die sogenannten „Fairnessabkommen“ in den Parteien, mit denen Kandidaten auf den hinteren Listenplätzen von der Eigenwerbung möglichst abgehalten werden, belegen das.

Das Problem könnte durch die Einführung einer Kandidatenbroschüre für die Wahlkreise gemildert werden.

Eigentlich sollten die Parteien in den Wahlkreisen ein stärkeres Interesse daran haben, mit möglichst vielen Kandidaten aufzutreten, die ein insgesamt gutes Wahlkreisergebnis fördern. Es scheint nicht immer klar zu sein, dass auch in den Wahlkreisen - wie für die Landeslisten - das Verhältniswahlrecht und kein Mehrheitswahlrecht gilt. Deshalb ist es bisher auch keinem Einzelkandidaten gelungen, ein Mandat zu erringen.

Am wirksamsten wäre es, nicht nur die Stimmen für die Landeslisten, sondern auch die Wahlkreisstimmen für die Sitzverteilung zwischen den Parteien in der Bürgerschaft heranzuziehen.

So eine Abweichung von der Grundstruktur des Bundestagswahlrechts hätte allerdings Nachteile für kleine Parteien, die nicht in allen Wahlkreisen kandidieren. Und Wählerinnen und Wähler wollen mitunter aus ihrer Sicht überzeugende Personen wählen, aber nicht deren Parteien.

Soziale Spaltung

Unterschiedliche Sozialstrukturen zwischen den Stadtteilen gehen einher mit unterschiedlich hohen Wahlbeteiligungen. Der Satz „ Die da oben machen ja doch was sie wollen“ fällt viel häufiger in sozial benachteiligten Gebieten. Die Bereitschaft zu wählen ist entsprechend geringer. Und je geringer die allgemeine Wahlbeteiligung ist, desto größer ist in der Regel der Unterschied zwischen armen und reichen Stadtteilen. Nicht das Wahlrecht, sondern die sozialen Unterschiede sind das Problem. Was aber bedeutet das für das für die Attraktivität von Wahlen? In den Wahlkreisen sollten mehr Leute kandidieren, mit denen sich die Menschen vor Ort identifizieren, die bereit sind sich zu kümmern. Dazu bietet das geltende Wahlrecht gute Voraussetzungen. Sie müssen nur genutzt werden. Diese Aufgabe ist schwierig und eine große Herausforderung für die Parteien. Da hilft kein Klagen, da hilft nur Machen.

Die Aussage, ein kompliziertes Wahlrecht schrecke besonders sozial schlechter gestellte Menschen vom Wählen ab, dürfte eine unbewiesene Behauptung sein. In München (1,1 Millionen Wahlberechtigte) wird bei den Kommunalwahlen mit einem – gemessen am Hamburger Wahlrecht – recht kompliziertem Wahlrecht gewählt. Und es gibt zeitgleich drei Wahlen: Der Oberbürgermeister wird nach dem Mehrheitswahlrecht mit einem Kreuz gewählt. Die 80 Stadträte werden mit einem Verhältniswahlrecht gewählt. Dabei können bis zu 80 Kreuze kumulierend und panaschierend genutzt und ein Listenkreuz vergeben werden. Kandidaten können von der Liste gestrichen und bis zu dreimal auf einer Liste genannt werden. Nach dem gleichen System werden Bezirksausschüsse gewählt, wobei je nach Bezirksgröße 15 bis 45 Stimmen vergeben werden können. Der Anteil der ungültigen Stimmen betrug bei der Kommunalwahl 2014 etwa 1,9 %. Die soziale Spaltung bei der Wahlbeteiligung ist vergleichsweise gering, trotz niedriger Wahlbeteiligung (42,9 %). München weist im Vergleich zu Hamburg eine insgesamt geringe soziale Spaltung auf.

Und das Wahlrecht ist in München seit langem akzeptiert und wird nicht vor der Wahl schlecht geredet und geschrieben. In Hamburg ist genau das geschehen. Damit fördert man sicher nicht die Wahlbeteiligung, insbesondere nicht in Stadtteilen mit ohnehin geringen Wahlbeteiligungen.

Wahlbeteiligung

Die seit den neunziger Jahren ständig sinkende Wahlbeteiligung dürfte durch die Art oder Komplexität des Wahlrechts weder gefördert noch gehemmt worden sein. Die Ursachen werden die gleichen sein wie beim drastischen Rückgang der Mitgliederzahlen in den Parteien. Die Entwicklung ist Besorgnis erregend, zumal keine Trendwende in Sicht ist.

Ungültige Stimmen

Die Zahl der ungültigen Stimmen liegt mit knapp drei Prozent im üblichen Bereich für Wahlrechte mit  differenzierbarer Stimmabgabe. Gegenüber 2011 gibt es einem erfreulichen Rückgang. Und es gibt deutliche Verbesserungsmöglichkeiten.  

Die vergleichende Analyse zwischen dem Anteil der ungültigen Stimmen in den Wahlkreisen und auf den Landeslisten zeigt große Unterschiede  bei der Art der Ungültigkeit. In den Wahlkreisen (Stimmzettel ohne Kopfstimmen) werden nur 0,6 % der Stimmzettel ungültig durch zu viele Kreuze (wie 2011), bei den Landeslisten sind es 2,3 %. Danach gibt es offensichtlich ein „Grundrauschen“ des Fehlers „zu viel Kreuze“ von etwa O,6 %. Durch Heilungsregeln und/oder bessere Aufklärung könnte auch auf den Landeslisten diese Fehlerursache auf 0,6 % gesenkt werden. Das könnte dann zu einer Fehlerquote wie bei den Bundestagswahlen führen. Der extrem hohe Anteil  beim Fehler „zu viele Kreuze“ durch SPD-Wähler könnte auf eine misslungene Kampagne der SPD zur Stimmabgabe zurückzuführen sein.

Der hohe Anteil „leerer Stimmzettel“ bei den Wahlkreislisten ist dagegen schwerer zu interpretieren. Eine Ursache könnte die schlichte Erkenntnis sein: Nur die Landesliste ist wichtig. Möglicherweise korrespondiert dieser Fehler aber auch mit Vergabe aller 10 Stimmen auf die Landesliste. Da der Fehler in einer ähnlichen Größenordnung liegt, ist diese Vermutung nicht ganz abwegig. 

Wirkung der Stimmen

Die Wirkung der abgegebenen Stimmen soll für die Wählenden leicht nachvollziehbar sein. Das ist sicher bei den Hamburger Wahlkreislisten gegeben: Die Partei mit den meisten Stimmen im Wahlkreis erhält die meisten Mandate aus dem Wahlkreis. Wer für seine Partei die meisten Stimmen bekommen hat, bekommt das erste Wahlkreismandat usw. Auch bei einer Liste mit einer Kopfstimme ist das Verfahren einfach zu verstehen: Die Partei mit den meisten Stimmen bekommt die meisten Mandate. Wer für seine Partei die meisten Stimmen bekommen hat, erhält das erste Mandat usw. Wer nur die Kopfstimme ankreuzt, hat keinen Einfluss darauf, wer für die so gewählte Partei ein Bürgerschaftsmandat bekommt. 

Alle Gewichtungen von Stimmen bei der Vergabe von Mandaten führen zu Intransparenz und/oder Ungerechtigkeiten.